XXVlI. Band 1941 Heft 1
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Begründet von
'Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
S. G. Biddle G. Bose A. A. Brill Helene Deutsch M. Eitingon Philadelphia Calcutta New York Boston Jerusalem F. Fromm-Reichmann I. Hollös Ernest Jones J. W. Kannabich Robert P. Knight Washington—Baltimore Budapest London Moskau Topeka David M. Levy’ K. Marui George J. Mohr S. J. R. de Monchy Charles Odier New York Sendai Chicago Rotterdam Paris Philipp Sarasin H. K. Schjelderup Ad. Stern A. Tamm Y.K. Yabe Basel Oslo NewYork Stockholm Tokio
herausgegeben von Anna Freud
redigiert von
Edward Bibring Heinz Hartmann Wilhelm Hoffer Boston New York London Ernst Kris Robert Waelder New York Boston ar a EEE EEE TEE EEE EEE EEE Sigm. Freud . Ein Jugendbrief G. Roheim Die psychoanalytische Deutung des Kultur- begriffs K. Friedländer Charlotte Bronte: Zur Frage des masochistischen Charakters E. Isaac-Edersheim _. k - . Messias, Golem, Ahasver. Drei mythische
Gestalten des Judentums. I. Der Messias
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INTERNATIONALE
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOANALYSE UND IMAGO
XXVI. BAND 1941
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Internationale Zeitschrift
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IMAGO PUBLISHING CO. 6 FITZROY SQUARE, LONDON, W.ı
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Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago
Begründet von Sigm. Freud
XXVI. BAND 1941 Heft 1
Ein Jugendbrief
von
Sigm. Freud Nachts. Wien, 16. Juni 1873.
Lieber Freund!
Wenn ich mich nicht scheute, das nichtswürdigste Witzwort unseres witzelnden Jahrhunderts auszuschreiben, dürfte ich billig sagen: ‚Die Matura ist tot, es lebe die Matura.‘ Aber der Witz gefällt mir so wenig, dass ich lieber wollte, die zweite Matura wäre auch schon vorbei. Eine Woche nach der Schriftlichen Prüfung habe ich unter heimlichen Gewissensbissen und Herzdrücken verschleudert und be- finde mich seit gestern auf dem Wege, den Verlust einzubringen und tausend Lücken von Alters her zu verstopfen. Sie wollten freilich nie etwas davon hören, wenn ich mich der Faulheit beschuldigte, ich aber empfinde, es ist etwas daran und weiss das besser.
Ihre Neugierde von der Matura zu hören, muss sich mit kalten Speisen be- scheiden, weil sie zu spät nach geschehener Mahlzeit kommt; eine pathetische Beschreibung all des Hoffens, Schwankens, der Bestürzung, Erheiterung, der
1) Die Redaktion veröffentlicht diesen Brief des 17jährigen Freud, den der Adressat mehr als 60 Fabre nach Empfang der Familie zur Verfügung gestellt hat.
TEE
6 Sigm. Freud
Lichter, die einem plötzlich aufgehen und der unerklärlichen Glücksfälle, die man sich „unter Collegen‘“ erzählt, kann ich Ihnen leider nicht mehr liefern; dazu hat die Schriftliche bereits viel zu wenig Interesse für.mich. Resultate will ich Ihnen vorenthalten, dass ich bald Glück, bald Unglück hatte, versteht sich; bei so wich- tigen Anlässen hat stets die gütige Vorsehung und der boshafte Zufall die Hand im Spiel. Solche Ereignisse scheiden sich vom gewöhnlichen Lauf der Dinge. Kurzum, da ich Sie doch nicht auf etwas so Reizloses gespannt wissen will, in den 5 Arbeiten erhielt ich die Noten ausgezeichnet, lobenswert, lobenswert, lobenswert, befriedigend. Ärgerlich wars genug. In Latein bekamen wir eine Stelle aus Virgil, die ich zufällig vor längerer Zeit privat gelesen hatte, das verleitete mich, rasch in der Hälfte der dazu bestimmten Zeit zu arbeiten und mir das Vorzüglich zu verscherzen. Ein anderer hat also hier vorzüglich, ich selbst die zweite Arbeit mit lobenswert. Die Deutsch-Lateinische Übersetzung schien sehr leicht, in dieser Leichtigkeit lag ihre Schwierigkeit, wir verwandten nur den dritten Teil der Zeit darauf, in Folge dessen missglückte sie schmählich, also: befriedigend. Zwei andere brachten es auf lobenswert. Die Griechische Arbeit, für die eine 33 Verse lange Stelle aus dem König Ödipus vorlag, gelang besser, lobenswert, das einzige; ich hatte die Stelle ebenfalls für mich gelesen und kein Geheimnis daraus gemacht. Die mathematische Arbeit, an die wir mit Zittern und Beben gegangen waren, glückte vollständig, ich schrieb lobenswert hin, weil ich die genaue Note noch nicht kenne. Mit Ausgezeichnet endlich stem- pelte man mir die deutsche Arbeit. Es war ein hoch sittliches T'hema ‚‚Über die Rücksichten bei der Wahl des Berufes‘ und ich schrieb ungefähr dasselbe hin, das ich vor 2 Wochen an Sie geschrieben hatte, ohne dass Sie mir dafür ein Ausgezeichnet bestätigt hätten. Mein Professor sagte mir zugleich, und er ist der erste Mensch, der sich untersteht, mir das zu sagen, — dass ich das hätte, was Herder so schön einen idiotischen Styl nennt, d.i. einen Styl, der zugleich correct und charakteristisch ist. Ich habe mich über die unglaubliche Tatsache gebührlich verwundert und versäume es nicht, das glückliche Ereignis, das erste in seiner Art, so weit als möglich zu verschicken. An Sie z.B. der Sie bis jetzt wohl auch nicht gemerkt haben, dass Sie mit einem deutschen Stylisten Briete tauschen. Nun aber rate ich Ihnen, als Freund, nicht als Interessent, —
bewahren Sie auf — binden Sie zusammen — hüten Sie wohl — man kann nicht wissen.
Ein fugendbrief 7
Dies, lieber Freund, war meine schriftliche Matura. Wünschen Sie mir grössere Ziele und reinere Erfolge und stärkere Nebenbuhler und ernsteren Eifer; was sich mir nicht alles wünschen liesse, ohne dass es eine Haarbreit besser würde. Ob die Matura leicht oder schwer war, kann ich im Allgemeinen nicht entscheiden; nehmen Sie an, sie war gemütlich.
In der Ausstellung war ich bereits zweimal. Schön, aber mich hat es nicht be- täubt und entzückt. Vieles, das anderen gefallen muss, findet in meinen Augen keine Gnade, weil ich weder dies noch jenes, überhaupt nichts gründlich bin. Es fesselten mich also bloss Kunstgegenstände und allgemeine Effekte. Ein grosses zusammenhängendes Bild des menschlichen Treibens, wie’s die Blätter sehen wollen, finde ich nicht, ebensowenig als ich aus einem Herbarium die Züge einer Landschaft herausfinden kann. Es ist im Ganzen ein Schaustück für die geistreiche, schönselige und gedankenlose Welt, die sie auch zumeist besucht. Nach meiner „Marter‘ (so richten wir unter uns den Namen Matura zu) gedenke ich Tag für Tag hinzugehen. Es ist unterhaltend und zerstreuend. Man kann dort auch prächtig allein sein in all dem Getümmel.
Ich schreibe Ihnen das natürlich in rein boshafter Absicht, um Sie zu erinnern, wie wenig es feststeht, wann Sie diese Herrlichkeiten zu sehen bekommen und wie schmerzlich Ihnen der Abschied sein muss, wenn es doch bald dazu kommt. Kann ich mich doch in Ihre Stimmung hineindenken. Die schöne Heimat zu ver- lassen, teure Angehörige, — die schönste Umgebung, — Ruinen in der nächsten Nähe, — ich will abbrechen, sonst werde ich ebenso traurig als Sie, — Sie wissen doch am besten, was Sie verlassen müssen! Ich wette, Sie hätten nichts dagegen, wenn es Ihrem künftigen Chef erst in einem Monat einfallen sollte, Sie Ihren heimatlichen Freuden zu entreissen. Ach, warum sind Sie ein prosaischer Jude, Emil? Handwerksbursche von christlich germanischer Innigkeit haben in ähn- lichen Lagen die schönsten Lieder gedichtet.
Meine ‚‚Besorgnisse für die Zukunft‘‘ nehmen Sie zu leicht. Wer sich nur vor Mittelmässigkeit fürchtet, ist schon geborgen, trösten Sie mich. Wovor geborgen, muss ich fragen; doch nicht geborgen und versichert, dass er’s nicht ist? Was verschlägt’s, ob Sie etwas fürchten oder nicht? Ist nicht die Hauptsache, ob es so wahr ist, wie wir’s fürchten? Wohl wahr, dass auch stärkere Geister vom Zweifel an sich selbst ergriffen werden; ist darum jeder, der sein Verdienst in Zweifel zieht, ein starker Geist? Er kann ein Schwächling an Geist sein, nur ein ehrlicher
8 Sigm. Freud
Mann dabei, aus Erziehung, Gewohnheit oder gar aus Selbstqual. Ich will Sie nicht auffordern, wenn Sie in irgendwelche zweifelnde Lage kommen, Ihre Emp- findungen unbarmherzig zu zergliedern, aber wenn Sie es tun, werden Sie sehen,
wie wenig Sie sicher an sich haben. Die Grossartigkeit der Welt beruht ja auf dieser Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, nur ist’s leider kein fester Grund für unsere Selbsterkenntnis.
Wenn Sie mich nicht verstehen sollten (denn ich denke mit einer gewissen schlaftrunkenen Philosophie), so lassen Sie meine Gedanken nur laufen. Ich konnte leider tagsüber nicht schreiben, nach 23 Tagen kommt jener Tag, der Tage längster, an dem usw. Da ich in der kurzen Zeit die Gelehrsamkeit mit dem grossen Löffel schöpfen soll, bleibt mir keine Möglichkeit, gemeinverständliche Briefe zu schreiben. Ich tröste mich, dass ich sie doch keinem gemeinen Ver- stande schreibe, und verbleibe in allen möglichen Erwartungen
Ihr Sigmund Freud.
Die psychoanalytısche Deutung des Kulturbegrifts
von Geza Röheim New York
1. Die Urborde
Die erste psychoanalytische Deutung der Kultur, als Ganzes betrachtet, hat Freud in ‚„Totem und Tabu“ gegeben. Nach der Ermordung des Urvaters haben sich die Söhne der Urhorde mit ihm identifiziert und eben die Dinge sich versagt, die er ihnen zu tun verboten hatte. So wurde der „nachträgliche Gehor- sam“ der siegreichen Söhne zur Grundlage der Gesellschaft und der Kultur. ' Eine stillschweigende Voraussetzung dieser T'heorie ist die Annahme eines kollek- tiven Unbewussten. Wenn wir uns diese Annahme zu eigen machen, so sind wir berechtigt, Gruppenhandlungen aufeinander folgender Generationen so zu deuten, als ob sie Tätigkeiten ein und desselben Individuums wären. Ist es wahr- scheinlich, dass die Menschheit jemals in dem als ‚‚zyklopische Familie‘? bezeich- neten Typus der Gesellschaftsordnung gelebt hat? Seit dem Erscheinen von „lotem und Tabu‘ haben wir neue Bestätigungen erhalten, die das Leben der höheren Affenarten und der Menschenaffen betreffen, und wir wissen, dass das, was als „Dominanz-T'ypus‘‘ der Gesellschaft beschrieben worden ist,? sehr viel Ähnlichkeit mit dem Bilde aufweist, das uns von ‚‚T'otem und T'abu“ her vertraut ist. Ferner finden wir in vielen Mythen primitiver Völker gewisse Züge, die stark für die „Urhorden“-Auffassung (zum Unterschied von der reinen „Ödipus“- Auffassung) sprechen. ®
Wir sehen einen gewissen radikalen Kontrast zwischen den siegreichen Brüdern (Söhnen) und dem Vater; dieser kann als übernatürliches Wesen, als Tier oder als Dämon erscheinen; nur die jungen Helden der Geschichte sind menschlich im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Freuds Annahme einer grundlegenden Verschiedenheit zwischen der psychologischen Haltung des Urvaters und der jungen Männer? kann als Erklärung dafür dienen. In diesen Mythen finden wir einen einzelnen Menschen und nicht eine Gruppe, und wir sehen, dass er an den
1) Freud: Totem und T'abu. 1913. (Ges.W., Bd. IX.)
2) A. Lang and T. T.. Atkinson: Social Origins and Primal Law. 1903.
3) S. Zuckerman: The Social Life of Apes and Monkeys. 1932.
4) G. Röheim: The Riddle of the Sphinx. 1934. S.175.
5) Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. W., Bd. XIII, S.151.
10 Geza Röheim
Anfang der Menschheitsentwicklung gestellt wird. Gesellschaftliche Einrichtungen und menschliche Kultur haben ihre Wurzel in dem tragischen Ereignis, so wie es in „Totem und Tabu‘ beschrieben ist.
Wir wollen vorläufig einmal annehmen, dass die Menschheit oder die Vorläufer der Menschheit tatsächlich in dem Dominanz- oder Urhordentypus der sozialen Organisation gelebt haben; denn was das von dem Menschenaffen gelieferte Be- weismaterial anlangt, so gibt es auch andere Beobachter, die monogame Familien- formen beschreiben,® und was die Mythen betrifft, so ist es ganz gut möglich, sie als auf dem Ödipuskomplex basierend und in die Vergangenheit projiziert zu er- klären — mit anderen Worten: es besteht keine Notwendigkeit, sie als Dokumen- tierung einer Phylogenese aufzufassen, sie können auch einen Versuch darstellen, die Phylogenese nach den Grundsätzen der Ontogenese zu erklären.
Wenn wir nun aber von der Annahme einer Urhordenperiode in der Vergangen- heit ausgehen, so ist die nächste Schwierigkeit, auf die wir stossen, eine Erklärung dafür zu finden, wie eine solche Periode in traditionellen Formen fort- leben konnte. Wenn wir ein kollektives Unbewusstes annehmen, so sind wir dieser Schwierigkeit enthoben. Aber gegen diese Annahme sprechen gewichtige Gründe. Es ist etwas ganz anderes, die Vererblichkeit von Anlagen zuzugeben, als eine latente Erinnerung an ein Ereignis oder sogar an eine Reihe von Ereignissen aus grauer Vorzeit anzunehmen.
Versuchen wir nun, ohne diese Voraussetzung auszukommen, so gibt es zwei Möglichkeiten, das Fortleben der Urhordentragödie aus der vormenschlichen Zeit bis in die menschliche hinein zu erklären. Ich bin für beide Möglichkeiten einge- treten. In der von Zuckerman beschriebenen Pavianhorde gibt es wirkliche Schlachten um die Führerschaft innerhalb der Horde, sobald der ‚‚Oberherr“ die ersten Anzeichen abnehmender Kraft oder Potenz verrät. Daneben gibt es aber auch noch Scheinkämpfe, die gleichfalls die charakteristischen Züge der echten Kämpfe aufweisen. Kaum ein Tag vergeht ohne einen Aufruhr bei den jungen Männchen. Es fängt gewöhnlich so an, dass ein Tier eine drohende Haltung einnimmt, das Maul aufsperrt und die Zähne fletscht. Die Aufregung verbreitet sich unter allen Tieren der Gruppe. Der Tumult wird allgemein und greift auch auf die Gruppen der verheirateten Tiere über. ‚‚Das aggressivere Tier scheint unbekümmert durch die Zunahme der Feinde, die es gegen sich aufgebracht hat, und so entwickelt ein Paviankampf seinen ganz besonderen Charakter: ein einzelnes Tier verteidigt sich gegen eine Gruppe. Gewöhnlich weicht die Gruppe zurück, sooft das Einzeltier vorgeht.‘ Die Schein-
6) Vgl. auch R. Linton: The Study of Man. 1936. S.140. 7) S. Zuckerman: The Social Life of Apes and Monkeys. 1932. S.228 und 250.
Die psychoanalytische Deutung des Kulturbegriffs 11
kämpfe sind: wahrscheiulich Abreaktionen der wahren Tragödie der Urhorde, spielerische Wiederholungen, die ihren Ursprung durch das formale Element verraten (einer gegen viele). Wir können sie als Mittelding zwischen wirklicher Wiederholung und Wiederholung im Drama ansehen. Das zentralaustralische Ritual, wie es heute ausgeführt wird, gibt sich als eine Wiederholung nicht der von den Vorfahren ausgefochtenen Sexualkämpfe, sondern der von diesen Vorfah- ren ausgeführten Riten. Möglicherweise sind diese Scheinkämpfe ein Überbleibsel nach dem Verschwinden der wirklichen Urhordenschlachten und sind von einer Generation zur anderen durch Nachahmung traditionell überliefert worden, noch vor der Entstehung der menschlichen Sprache. |
Der Mythus berichtet uns von Schauspielen der Urväter, nicht von krasser Wirklichkeit. Für die heranwachsende Generation hatten diese traditionellen dramatischen Vorstellungen einen funktionalen Wert, nämlich als eine vergesell- schaftete Sublimierung ihres eigenen, ontogenetisch entstandenen Ödipuskom- plexes.®
Die andere Lösung setzt voraus, dass die für die Urhorde typische Organi- sation ein Charakteristikum der menschlichen Vorgeschichte gewesen sie, nicht aber fons et origo der menschlichen Kultur im allgemeinen. In diesem Fall hat vielleicht die periodische 'Tötung des Führers in irgendeiner abgeschwächten Form unter menschlichen Zuständen fortgelebt, und der Mythus könnte der Bericht über eines dieser späteren Ereignisse sein.? ‚Wir wissen tatsächlich, dass primitive Könige Inzest begehen und am Ende einer bestimmten Periode in ritu- eller Weise getötet werden. Kein Baja-König darf länger als 14 Jahre leben; sein Sohn und Nachfolger ist zugleich sein Mörder. ‘‘1°
2uDresontogenetische Theorierder’Kultur
Die Theorie eines kollektiven Unbewussten wäre eine Annahme, zu der wir uns gezwungen sehen könnten, wenn wir keine andere Möglichkeit hätten, das ‘Phänomen der menschlichen Kultur zu erklären. Ich bin jedoch der Meinung, dass die Psychoanalyse noch einen anderen Beitrag zu dieser Frage zu leisten imstande ist, und dieser zweite Vorschlag scheint mir zuverlässiger und sein Nachweis leichter. Diese zweite Annahme besteht darin, dass die charakteristi- schen Züge des Menschengeschlechtes in derselben Weise entwickelt worden sind, wie sie heute in jedem einzelnen Menschen als Sublimierung oder als Reak- tionsbildung auf Kindheitskonflikte entstehen. Dies habe ich die ontogenetische Kulturtheorie genannt. Ich habe eine Gesellschaft gefunden, in der das Kind
8) Röheim: The Riddle of the Sphinx. S.234f. 9) Röheim: Primitive High Gods. The Psychoanalytic Quarterly, Bd. III, S.123. 10) Röheim: Animism, Magic and the Divine King. S.254.
12 Geza Röheim
einem libidinösen Trauma von Seiten der Mutter ausgesetzt war, und ich habe dargelegt, dass diese vorwiegend männliche Gesellschaft auf der Verdrängung dieses 'Traumas beruhte. Desgleichen habe ich gezeigt, dass in einer mutterrecht- lichen Gesellschaft das libidinöse Trauma darin besteht, dass der Vater spielerisch die Genitalien des Kindes zu fressen droht, und dass dieser Gesellschaft die Fiktion zugrunde lag, es gebe keine Väter.
Wenn wir uns einige bedeutsame Stellen in Freuds Schriften ins Gedächt- nis zurückrufen, so sehen wir, dass auch Freud dieser zweiten Auffassung der Kultur huldigt.!! Besteht Kultur in der Gesamtheit aller unserer Anstrengungen, durch die wir es vermeiden wollen, unglücklich zu sein, so läuft das auf eine in- dividualistische und, vom psychoanalytischen Standpunkt aus, ontogenetische Kulturerklärung hinaus. Wenn die Kultur auf dem Verzicht auf Triebbefriedi- gung beruht, so heisst das, dass das Über-Ich ihre Grundlage ist und dass sie also auch durch den Umstand zu erklären ist, dass wir ein Über-Ich entwickeln.!?
Oder, wenn wir Freuds Aufsätze betrachten, in denen er nicht die Kultur als Ganzes sondern gewisse Kulturfaktoren erklärt, so finden wir, dass diese Deutungen individualistisch und psychologisch!® und nicht auf der Annahme einer Phylogenese aufgebaut sind. Berücksichtigen wir schliesslich die von Melanie Klein und die im allgemeinen von ihrer Schule gegebenen Deutungen, so tritt deutlich hervor, dass alle diese Deutungen der individuellen Entwicklung auch eine Deutung der menschlichen Kultur als auf der Kindheitssituation basierend in sich einschliessen. Wenn z.B. Melanie Klein den Symbolismus als notwendige Folge der aggressiven Regungen während der Kindheit einerseits und der gegen diese Regungen mobilisierten Mechanismen andererseits ansieht, und auch als die Grundelemente in den Beziehungen des Subjekts zur Aussenwelt und in der Sublimierung, so impliziert das eine Erklärung der Kultur in Begriffen der Kind- heitssituation.!* Wenn Dämonen als Projektionen des Über-Ichs erklärt werden, die Funktionen eines Medizinmanns durch die Annahme, dass ein äusseres Objekt gegen ein introjiziertes Objekt zu Hilfe gerufen wird, oder wenn Intro- oder : Extroversion in einem Einzelwesen oder einer Gruppe auf die Flucht vor einem inneren oder äusseren Objekt zurückzuführen sind, so sind diese und viele andere Erklärungen sichtlich auf die Kindheitssituation gegründet.15
11) G. Röheim: Psychoanalysis of Primitive Cultural Types. Int. Journ. of Psa., Bd. XIII.
12) Freud: Das Unbehagen in der Kultur.
13) Vgl. z.B.: Das Tabu der Virginität. Ges. W., Bd. XII., Eine Teufelsneurose im 17. Jahr- hundert. Imago, Bd. IX (1923) (Ges. W., Bd. XIII. S. 317). Das Motiv der Kästchenwahl. Ges. W. Bd.X.
14) Vgl. M. Klein: The Importance of Symbol Formation in th Journ. of Psa., 1930, S.26.
15) M. Schmideberg: Psychotische Mechanismen in der Kul Bd. XI (1930), S. 389, 391, 414.
e Development of the Ego. Int.
turentwicklung. Int. Ztschr. f. Psa.,
Die psychoanalytische Deutung des Kulturbegriffs 13
3. Due Verlängerung der Kindheit
Im vorangehenden Abschnitt habe ich zwei Deutungsarten behandelt, die als voneinander wesentlich verschieden anzusehen sind. Man könnte einwenden, dass die psychoanalytische Deutung von Dichtung, Kunst oder Magie etwas an- deres ist als der Versuch der Deutung einer spezifischen Kultur auf der Grundlage einer spezifischen Kindheitssituation. Mir scheint, die Unterscheidung ist nur oberflächlich; wenn wir Leonardo da Vincis Kunstwerke und wissenschaftliche Leistungen aus seiner Kindheitssituation ableiten können,!® so ist das dieselbe Art von Erklärung wie in unserem Versuch, zentralaustralische Riten von den Gebräuchen zentralaustralischer Mütter und den Erlebnissen zentralaustralischer Kinder abzuleiten. Die meisten Anthropologen werden wohl zugeben, dass irgend eine Wechselbeziehung zwischen Kindheitserfahrungen und ' Kultur bestehen muss, aber sie könnten dazu neigen, die Auffassung von Ursache und Wirkung umzukehren und zu behaupten, dass diese oder jene Art von Kultur unter anderem auch die Besonderheit der Kindheitserlebnisse bestimmt. Natürlich ist es ganz zutreffend, dass die Kindheit eines Menschen für sein Verhalten als Erwachsener bestimmend sein wird, aber andererseits sind wiederum diese Kindheitserlebnisse von dem Benehmen anderer Erwachsener, des Vaters und der Mutter des Kindese bestimmt. Wenn wir einen Schritt weiter gehen und wieder das, was die Eltern, getan haben, aus ihrer Kindheit heraus deuten, so sehen wir, dass wir uns in einem circulus vitiosus bewegen und vor der alten Frage stehen: Was war früher da, die Henne oder das Ei?
Das Wort ‚Kultur‘ wird in der vorliegenden Arbeit in seiner allerweitesten Bedeutung gebraucht; es steht für alle die Merkmale, die den Menschen von seinen tierischen Brüdern unterscheiden. Wenn es uns gelingt, in der biologischen Ausstattung des Menschengeschlechts eine charakteristische Eigentümlichkeit zu entdecken, die auch in der Kindheitssituation eine Abänderung darstellt und nicht von kultureller Tradition abhängig ist, dann werden wir wohl einen Schlüssel gefunden haben, der uns viele Türen öffnet. Der Gedanke, dass die Verlängerung der Kindheit das entscheidende Merkmal in der menschlichen Entwicklung sei, ist nicht neu; viele verschiedene Vorschläge sind gemacht worden zur Erklärung der Art und Weise, in der die Verlängerung der Kindheit die Entwicklung des Menschen bestimmt haben könnte. Herbert Spencer erklärt die Mutterliebe als eine Variation von besonderem Nutzen für eine Spezies, deren charakteri- stisches Merkmal die längere Dauer der Hilflosigkeit des Kindes ist;!? Wester- marck erklärt das Andauern der ehelichen Bindung bei den Menschen auf derselben Grundlage.!® Dass der Mensch den Affen dadurch überflügelt hat, dass
16) Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Ges. W., Bd. VIII.
17) H. Spencer: Principles of Psychology, Bd. II, S.623. 18) Ed. Westermarck: The Origin and the Development of the Moral Ideas. 1908. Bd. II, S.191.
14 Geza Röheim
er imstande ist, seine Erfahrung der nächsten Generation weiterzugeben, ist evident,!? und die verlängerte Kindheit bildet eine notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen von Tradition. Briffault hat die Wichtigkeit unserer lang anhaltenden Unreife nachdrücklich betont. Dr. Below sagt, er habe beobachtet, dass unter den Lebewesen, die ihre Jungen in einem Zustand der Hilflosigkeit zur Welt bringen, wie der Mensch, der Hund, die Katze, die Ratte, die Maus und das Kaninchen, die Ganglienzellen zur Zeit der Geburt und auch noch eine Weile später unvollständig entwickelt sind, wohingegen Pferd, Kalb, Schaf und Meerschweinchen schon fast durchgängig in den frühen Abschnitten des fötalen Lebens und ausnahmslos direkt vor der Geburt in allen Gehirnteilen ein vollständig entwickeltes Gangliensystem aufweisen.?° Dieser unvollständige Entwicklungszustand ist beim menschlichen Säugling noch viel ausgeprägter als bei irgendeinem Tierjungen.?! „Die Verzögerung in der Wachs- tumsgeschwindigkeit, der Eintritt des jungen Säugetiers in die Welt als ein hilfloses Wesen vor seiner vollen Entwicklung macht also, was seine anatomische Struktur betrifft, nur den geringen Unterschied aus, der von jenen mikroskopisch kleinen Fasern in der Hirnsubstanz dargestellt wird. Doch von diesen kaum wahrnehmbaren Spinngeweben hängt eine neue Welt des Seins ab. Wären die Verbindungen, die sie bewirken, schon in der dunklen Abgeschlossenheit des Mutterleibs völlig ausgebildet, so wäre das neugeborene Wesen fast so gut für das Leben ausgestattet wie sein Vater oder seine Mutter; es könnte auf sich acht- geben, sich mit Nahrung versorgen, ja einen Mann im Wettlauf besiegen.‘ Im Verhältnis zu seiner Vollkommenheit, „im Verhältnis zur biologischen Ausbildung seines Nervengewebes ist es festgelegt, starr und unwandelbar.‘“ Wenn hingegen die Verbindung zwischen den ererbten Entwicklungsrichtungen und der Um- gebung nicht vor der Geburt vollständig festgelegt ist, so entsteht ein Wesen, in dem der Instinkt durch die Erziehung ersetzt wird.?® Daraus folgt, dass im gleichen Verhältnis, wie der Zustand der Unreife beim Jungen verlängert ist, das Säugetier in bezug auf Intelligenz, auf die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und sich durch die Modifikation seines Verhaltens anzupassen, höher steht.23 Unsere Realitätsanpassung ist also durch unseren verzögerten Reifungsvorgang bedingt, insofern sich dieser Vorgang in der Gehirnstruktur manifestiert. Ein
19)R. Linton erklärt die Gruppenbildung auf der gleichen Grundlage. (R. Linton: Study of Man. 1936. S.141.) | re
20) E. Below: Die Ganglienzellen des Gehirns bei verschiedenen neugeborenen Tieren. Archiv für Anatomie und Physiologie (Physiologie Abteilung), 1888, S.188.
21) R. Britfault: The Mothers.’Bd. I. S.102.
22) R. Briffault, a.a.O. S.103.
23) R. Briffault, a.a.0. S.104. Vgl. auch F. H. Allen: he Diner : er ; th. A } Neurology and Psychiatry. Bd. XXXVII (1937), 5.859. ee ee
Die psychoanalytische Deutung des Kulturbegriffs 13
anderer Gesichtspunkt, unter dem unsere verlängerte Kindheit als Grundelement zur Erklärung unserer Realitätsanpassung anzusehen ist, ist von Bally vorge- bracht worden: ‚Der motorische Ablauf innerhalb des Beutekreises weist bei niederen Tieren eine starre Form auf. Bei allen Tieren, die eine längere, von den Eltern betreute Jugend durchmachen, wird das Variationsprinzip in den Hand- lungen sichtbar. Die elterliche Motorik bedeutet, dass die Eltern ihre Motorik in den Dienst der oralen Befriedigung und der Feindesabwehr stellen. Die Motorik der Jungen ist aber phylogenetisch gegeben, sie wird zu einer freischwebenden, objektlosen Motorik bzw. zu einer Motorik mit Ersatzobjekten, und so entsteht das Spiel.‘‘?* Da die oralen Bedürfnisse von den Eltern befriedigt werden, kann das junge Tier oder vormenschliche Wesen seine Besetzungen von dem rein praktischen Ziel des Essens abziehen zugunsten von spielerischer Beobachtung, Erfassung und Introjektion seiner Umgebung; und das ist es wohl, was K.Groos als den „‚Übungswert‘‘ unserer Spieltätigkeit bezeichnet hat. Hier wird uns ein Grund an die Hand gegeben, aus dem wir das Realitätsprinzip, das ist die Fähig- keit, Aufschub zu ertragen, als auf dem Lustwert des Spieles basierend auffassen dürfen. Ein bedeutender Unterschied zwischen Mensch und Tier ergibt sich aus der Verzögerung unseres Zahnens und dem späten Auftreten der Fortbewegungs- funktion. Während alle Tiere direkt von der Muttermilch zur Erwachsenen- Ernährung übergehen, macht die späte Dentition bei den menschlichen Kindern die Einschaltung einer Zwischenperiode notwendig, in der sie Nahrung von milchähnlicher Konsistenz und Beschaffenheit erhalten.?° Auf diese Weise wird eine relative Unabhängigkeit der Bewegungsreaktion für die Nahrungsbeschaffung entwickelt, und diese unabhängige Spieltätigkeit ist die Grundlage unserer Kultur. Die höheren Affen sind zu einer Art von Probehandlungen befähigt, die nicht starr auf das Ziel gerichtet ist. Und das Denken ist eine abgeschwächte Probehandlung.?®
Wenn wir Bolks Darlegungen folgen, so sehen wir eine andere Stufenleiter, die vom tierischen zum menschlichen Leben führt. Bolk ist zu der Überzeugung gelangt, dass strukturelle Eigentümlichkeiten oder Relationen, die sich bei anderen Primaten nur vorübergehend zeigen, bei der menschlichen Rasse infolge ver- langsamter Entwicklung stabilisiert worden sind.?” Bolk schreibt die Verlang- samung unseres Wachstums dem innersekretorischen Drüsensystem zu, gewissen
24) G. Bally: Die frühkindliche Motorik im Vergleich mit der Motorik der Tiere. Imago, Bd. XIX, S.343.
25) Bei primitiven Völkern verhält sich das anders. Die Zeit des Saugens ist viel länger und die erwähnte Übergangzeit von geringerer Bedeutung. . 26) G. Bally, a.a.O., S.357.
27) L. Bolk: Das Problem der Menschwerdung. 1926. S.7.
16 Geza Roheim
hormonalen Produkten, die den Reifungsprozess hemmen. Unsere Schwierig- keiten stammen nicht nur aus dem längeren Kindheitszustand der Spezies, son- dern auch aus der Diskrepanz der Entwicklung von Soma und Germa. Das Soma ist gegenüber dem Germa relativ retardiert; das besagt, dass die Menschen Wesen mit relativ verlängerter Kindheit sind (im Vergleich mit der gesamten Lebens- dauer) und eine relativ vorzeitige Sexualentwicklung haben. Ganz deutlich haben wir hier die biologische Begründung für die frühe Objektbeziehung, für den Ödipuskomplex. Das Band zwischen Kind und Mutter ist von längerem Be- stand als bei irgend einer anderen Tierart, und der Sexualimpuls hat ein beträcht- liches Mass an Objektgerichtetheit schon zu einer Zeit erlangt, in der das einzige verfügbare Objekt die Mutter ist. Andererseits ist es auch leicht verständlich, warum ein relativ unentwickeltes Soma die Bildung von Abwehrmechanismen erfordert,?® d.h. die Bildung eines Ich als eines überorganischen Soma zum Schutze gegen eine vorzeitige Libidoüberschwemmung.?? Unsere relative Un- fertigkeit würde deshalb den traumatischen Charakter unserer frühzeitigen Sexualerfahrung erklären, und dieser Zug in der menschlichen Entwicklung ist es, den ich in meinem Buch ‚Das Rätsel der Sphinx‘‘ verfolgt habe.3®
Wir wissen, dass Freud gezeigt hat, dass die menschliche Natur durch drei Faktoren bestimmt wird: der biologische Faktor besteht in der relativen Hilflosig- keit des Neugeborenen, der phylogenetische im Bruch in der Entwicklung des menschlichen Sexuallebens, der psychologische endlich in der Differenzierung unserer psychischen Struktur.®! Der zweite Faktor, der phylogenetische, ist ein Sonderfall des ersten, während der dritte auch als eine Folge unserer relativen Unreife anzusehen ist. Das läuft auf die Feststellung hinaus, dass die menschliche Natur im allgemeinen, oder — was dasselbe besagt — dass die Kultur eine Folge unserer verlängerten Kindheit ist.
Wenn, wie Freud gezeigt hat, die Neurose ein Archaismus oder Infantilismus ist?” und die Zwangsneurose nichts als ein gesteigerter Fall der normalen Über- Ich-Bildung während der Latenzzeit,°® so läuft das auf die F eststellung hinaus, dass die Neurose nur eine übersteigerte Form der Kultur ist®* und dass die mensch-
28) Vgl. H. M. French: Defence and Synthesis in the Function of the Ego. Psa. Quarterly, Bd. VII (1938), S.547: „Wir haben Ursache zu glauben, dass der Ödipuskomplex und die aus ihm erwachsene Kastrationsfurcht ihrerseits Folgen der Tatsache sind, dass die Kindheit beim Men- schen so lange ausgedehnt ist.“
29) Vgl. Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen.
30) G. Röheim: The Riddie of the Sphinx. 1934.
31) Freud: Hemmung, Symptom und Angst. 1926.
32) Freud, a.a.O.
33) Freud, a.a.O.
34) G. Röheim: The Riddle of the Sphinx. 1934.
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liche Natur zum Unterschied von der tierischen auf die Konservierung der Kindheitssituation gegründet ist. Wenn wir schliesslich die T'atbestände betrach- ten, die die Schule Melanie Kleins aufgedeckt hat, und ihren theoretischen Gesichtspunkt berücksichtigen, so finden wir wiederum, dass die Verzögerung des Reifungsprozesses uns den Schlüssel zum Verständnis des gesamten Systems liefert. Denn obgleich Joan Rivie&re nachdrücklich betont, dass der primäre Faktor in der Hilflosigkeit des Kindes seinem ihanatos gegenüber zu finden sei und die Abhängigkeit von der Mutter nur einen sekundären Faktor darstelle, 35 so darf man doch wohl fragen, was diese Hilflosigkeit denn anderes bedeutet als die Unfähigkeit, auch nur das kleinste Mass von Versagung zu ertragen, was wiederum einem Zustand absoluter Abhängigkeit von der Mutter gleichkommt. Diese psychologische Erfahrung scheint eine der Eigentümlichkeiten zu sein, die der Mensch durch seinen besonderen Entwicklungsprozess ausgebildet hat. Es ist dies ein Teil desselben Phänomens wie der im Vergleich zu anderen Tieren lang andauernde Zustand körperlicher Hilflosigkeit und Abhängigkeit, den das menschliche Kind durchzumachen hat.
Indem wir eine dieser Gedankenreihen verfolgen, erklären wir den Ursprung von Abwehrmechanismen gegen libidinöse Strebungen als eine Folge unserer retardierten Soma- und relativ vorzeitigen Germaentwicklung (Bolk und Röheim). Dann wiederum sieht es so aus, als ob die Entwicklung unseres Hirns (Briffault) und unserer Fähigkeit, Aufschub zu ertragen (Realitätsprinzip), aus der relativen Unreife des jungen Menschenwesens erklärt werden könnte (Bally). Die Trennung von Ich und Nicht-Ich, die Mechanismen der Introjektion und der Projektion folgen aus der Unfähigkeit des Kleinkindes, mit seiner eigenen Aggression fertig zu werden, und aus seiner Abhängigkeit von der Mutter als Beruhigungsquelle (M. Klein, J. Riviere). Schliesslich ist die Neurose selbst eine Form von Infanti- lismus (Freud) und in gewissem Sinne nur eine Übertreibung der wesentlichen Eigenart menschlicher Entwicklung (Freud).
Wir dürfen daher zum Schlusse kommen, dass die Psychoanalyse als Psychologie mit einer biologischen Theorie im Einklang steht, welche versuchen würde, die menschliche Natur auf der Grundlage einer bestimmten infantilen Situation zu erklären. Aber wie kann diese Auffassung uns zu der von uns angenommenen Differenzierung der Kulturen auf Grund einer Verschiedenheit in der infantilen Situation, d.h. in dem üblichen infantilen Trauma einer bestimmten Menschen- gruppe, führen?
Wenn wir beobachten, dass in einer bestimmten menschlichen Gesellschaft die Mutterbrust in einer gewissen Art gereicht oder entzogen wird, oder dass Schlafgewohnheiten oder die Art und Weise, wie die Erwachsenen mit Kindern
35) J. Riviere: Hate, Greed and Aggression. 5.9.
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spielen, bestimmte libidinöse Reaktionen hervorrufen, so wissen wir noch immer nicht einwandfrei, wie diese spezifischen Situationen aus dem allgemeinen Tat- bestand einer verlängerten Kindheit des Menschen erwachsen sein können.
Die gleiche Frage kann in jedem individuellen Fall gestellt werden. Warum war A einem bestimmten "Trauma unterworfen, warum hatte eine bestimmte Situation für B traumatische Folgen und für C nicht? Auf solche Fragen ist sehr schwer Antwort zu geben — in derartigen Fällen berufen wir uns auf die Ver- anlagung als unsere ulfima ratio.
Im Falle menschlicher Gruppen müssen wir wahrscheinlich das gleiche tun. Einmal besteht die Tatsache der ungleichen Entwicklungsverzögerung bei den einzelnen Rassen, ?® welche an und für sich gewisse Folgen für die Wechselwirkung zwischen Es, Ich und Über-Ich, und daher auf die menschliche Psyche im all- gemeinen haben muss.?” Was die verschiedenen Formen des Mutter-Kind- Verhältnisses anlangt, so kann man diese mit den verschiedenen Koituslagen oder mit der verschiedenartigen Mann-Weib-Beziehung vergleichen. Bekanntlich ist die ventro-ventrale Position des Europäers nicht die charakteristische Position mancher primitiver Rassen;3® und bei den Menschenaffen paaren sich nur die noch nicht ganz ausgereiften Individuen in dieser Position.?® Wir könnten z.B. vermuten, dass die absolute Herrschaft des Mannes in der australischen Ge- sellschaft der Frau keine Gelegenheit gibt, die maskulinen Züge in ihrem Persön- lichkeitsaufbau zur Geltung zu bringen, so dass diese sich in der Mutter-Kind- Situation manifestieren müssen. Jedenfalls müssen wir zugeben, dass solche Verschiedenheiten in der infantilen Situation bestehen und dass sie wahrschein- lich auf konstitutionellen Verschiedenheiten menschlicher Gruppen beruhen.
Andererseits möchte ich diese Theorie nicht zu starr als eine endgültige Be- stimmung des Gruppencharakters aufgefasst wissen, der fortan in alle Ewigkeit im gleichen Geleise, in einem Kreislauf von 'Traumen, Sublimierungen der Erwachsenen oder Reaktionsbildungen und Wiederholungen derselben infantilen Traumen ablaufen wird.*° Selbst in einer Gruppe von Primitiven müssen wir mit Verschiedenheiten in der infantilen Situation und in den Persönlichkeiten ihrer Mitglieder rechnen. Mit dem Anwachsen der Gruppe*! nimmt die Weite dieser
36) L. Bolk: Das Problem der Menschwerdung. 1926. S.37.
= ee Racial Differences in the Neurosis and Psychosis. Psychiatry, 1939. S.37.
: gl. G. Röheim: Die Psychoanalyse primitiv . a ee co nn ysep er Kulturen, Imago, Bd. XVIII, 1932; derselbe,
39) Vgl. Zuckerman: The Social Life of Apes and Monkeys. 1932. of an Infant Chimpanzee. Comp. Psychol. Monogr. Bd. IX. S.316.
40) Vgl. Money-Kyrle: Superstition and Society. 1939.
41) Vgl. R. H. Lowie: Are We Civilized? 1929. S.293. uns gelingt es nicht ganz, ein komplizierteres zu lösen.)
S.285; Jacobsen: Development
(Der Wilde löst sein einfaches Problem;
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Variationen zu, nicht nur infolge der Anzahl der Beteiligten, sondern auch weil diese in einem abnehmenden Verhältnis identischen ‚‚Introjektbildungen“ unter- worfen sind.*? Die Kultur hat eine spezifische Sublimierung oder Reaktions- bildung sanktioniert und sozial zugelassen, und darum kann sie die latenten Kon- flikte des einzelnen nur zu einem stets geringer werdenden Teil in Kanäle leiten. Wer andere emotionale Bedürfnisse hat, wird die kulturellen Formen zu ver- ändern suchen.*? Da alle Menschen aus einer Menge von Es-Strebungen und Abwehrmechanismen bestehen, und da die Kultur nur für einige von ihnen Sublimierungsmöglichkeiten bietet, so werden die somit nicht Befriedigten in ihrer Bedeutung wachsen und der Gruppe den psychischen Hintergrund für eine Reformbewegung liefern. Die Annahme Cora Du Bois’, wonach kulturelle Veränderungen von Einzelindividuen ausgehen, ** sollte darum sicherlich Beach- tung finden.
4. Frühe Objektbeziehungen
Ich beabsichtige, in weiteren Publikationen einen naheliegenden Aspekt der Retardations-Theorie zu behandeln, der bisher noch keine angemessene Berück- sichtigung vom Standpunkt der psychoanalytischen Anthropologie gefunden hat. Über die von mir betonte Bedeutung der verlängerten Kindheit und ihrer Folgen haben sich auch verschiedene nicht-analytische Autoren ausgesprochen. Jevons schreibt: „Was nun die Gefühlsbeziehungen innerhalb der Familie betrifft, so ist darüber kein Zweifel möglich; die Kindheit dauert beim Menschen länger als bei irgendeinem der Tiere, von denen die meisten, wenn nicht im Augenblicke der Geburt, so doch sehr bald nach der Geburt imstande sind, zu laufen und für sich selbst zu sorgen. Die Kindheit des Menschen hingegen dauert so lange an, dass die menschliche Rasse sich im Kampf ums Dasein nicht hätte erhalten können, wären Elternliebe und Familienbande nicht schon beim Urmenschen stark entwickelt gewesen.” *5 Gesellig lebende Tiere füttern ihre Jungen, und die von ihren Eltern ernährten Kinder zeigen Neigung, gesellig zu leben. Die gesellige Anlage ist anscheinend eine modifizierte Fortsetzung des Kindes nach der sor- genden Gegenwart seiner Eltern, und das Kind kommt zur Welt mit der klaren
42) Wir könnten primitive Gesellschaften mit der Familien-Neurose oder dem Familien-Cha- rakter vergleichen, auf welche die französischen Psychoanalytiker besonders hinweisen. Vgl. R. Spitz: Familien-Neurose und neurotische Familie. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXIII (1937). S.548.
43) Die Tatsache, dass in den ganz primitiven Gesellschaften diese Veränderungen auf Träume basiert werden, ist ein neuerlicher Beweis für den entscheidenden Anteil des Unbewussten an der Kulturbildung.
44) Cora Du Bois: Some Anthropological Perspectives of Psychoanalysis. Psa. Review, Bd. XXIV (1937). S.254. .
45) F. B. Jevons: An Introduction to the History of Religion. 1911. S.46.
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Neigung, sich seiner Mutter anzuschliessen. Die Neigung zur Mutter ist die einzige Quelle von Nahrung und Schutz. Wird dieses Bestreben, die Mutter bei sich zu behalten, durchkreuzt, so hat das natürlich das Entstehen grösster Angst und Wut zur Folge.*% Die Frage nach den frühen Objektbeziehungen ist ein vielumstrittenes Thema, mit dem sich die verschiedenen analytischen Schulen viel beschäftigen. Nach Fenichel hat das Neugeborene kein Ich. „Der mensch- liche Säugling wird viel hilfloser geboren als die meisten anderen, Säugetiere. Er ist lebensunfähig, wenn für ihn nicht gesorgt wird.“*” Der Organismus kann nur mit Hilfe eines anderen Organismus von seinen Spannungen befreit werden und darum ist das neugeborene Kind im biologischen Sinne anaklitisch, was allerdings nicht bedeutet, dass es auch psychologisch anaklitisch ist, da es noch keine Vorstellung von Objekten hat. Die Spannung ist etwa Hunger; wird er von der Mutter gestillt, so schläft der Säugling ein, *® d.h. die erste Bejahung der Umgebung ist nur eine Zwischenstation auf dem Rückzugspfade. *°
Joan Riviere als Vertreterin der Schule Melanie Kleins stimmt darin mit Fenichel überein, dass sie die Haltung des Kindes als narzisstisch bezeichnet; aber sie sagt von diesem Narzissmus, dass er von Introjektion, d.h. von Objekt- beziehungen abhängt. Schliesslich haben wir die ungarische psychoanalytische Schule, welche die passive Objektliebe des Kindes (Ferenczi), seinen unersätt- lichen Wunsch nach mütterlicher Fürsorge und Ernährung betont.5! Diese psychische Haltung stellt einen Zustand dar, in welchem die unabhängige Exi- stenz des Objekts noch nicht anerkannt wird; wir könnten ihn als primäre oder archaische Objektliebe bezeichnen, die von den egoistischen Gefühlen noch un- trennbar ist. Die ungarische Sprache bezeichnet die Beziehung des Kindes zur Mutter mit dem Worte ragaszkodas („Sich-Anklammern“, ‚,Fest- halten’” 5%; und eben dieses Sich-Anhängen oder -Anklammern des Kindes hat Hermann als eine primäre Eigenschaft unserer Libido- und Ich-Entwicklung beschrieben.°® Mir scheint, dass Fenichels Bedenken gegen die Betonung der Objektgerichtetheit dieser frühen Entwicklungsphase aus dem Grunde, dass der Objektbegriff in dem kleinen Kinde noch nicht aufgetaucht ist, eher zu einer Psychologie passen würde, die die Psyche mit dem Bewusstsein identifiziert,
46) Jan D. Suttie: The Origins of Love and Hate. 1935. S.15f. 47) O. Fenichel: Frühe Entwicklungsstadien des Ichs. Imago, Bd. XXIII. (1937). S.245. 48) S. Bernfeld: Die Psychologie des Säuglings. 1925. 49) ©. Fenichel, a.a.O. S.247. 50) J. Riviere: Zur Genese des psychischen Konflikts im frühen Leb Iter. I an ebensalter. Int. Ztschr. f. Psa., , 51)M. Bälint: Frühe Entwicklungsstadien des Ichs. Imago, Bd. XXIII (1937). 52) A. Bälint: Liebe zur Mutter und Mutterliebe. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXIV (1939). S.38. 53) I. Hermann: Sich-Anklammern— Auf-Suche-Gehen. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXII (1936).
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als zu der psychoanalytischen Auffassung. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns mit einem Lebensabschnitt beschäftigen, in dem die scharfe Trennungslinie zwischen Bw und Ubw nicht existiert und in dem die ersten psychischen Ele- mente aus der psychologischen Situation hervorkommen. Der von Freud gegebenen Charakterisierung braucht keine weitere Beschreibung hinzugefügt zu werden: „Die kindliche Liebe ist masslos, verlangt Ausschliesslichkeit, gibt sich nicht mit Anteilen zufrieden. Ein zweiter Charakter ist aber, dass diese Liebe auch eigentlich ziellos, einer vollen Befriedigung unfähig ist, und wesent- lich darum ist sie dazu verurteilt, in Enttäuschung auszugehen und einer feind- lichen Einstellung Platz zu machen.‘5* Auf der Insel Normanby ist jedes kleine Kind gewana, d.h. immer voller Wünsche oder zu viel verlangend. Man hört oft Mütter ihre Kinder schelten: Gewana arena ojo! (,O du schrecklicher Quälgeist!‘“). Das Kind kommt in einem Zustand relativer Unreife zur Welt; es braucht mehr Liebe, als es sich verschaffen kann.
In im Erscheinen begriffenen Publikationen über die Riten des Bundes — oder, allgemeiner gesprochen, der Vereinigung — habe ich zu zeigen versucht, wie die Menschheit in nie endender Kindlichkeit immer wieder und wieder die Mutter- Kind-Situation wiederholt mit dem Grundmotiv der "Trennung (Angst, Aggres- sion) und der darauffolgenden Vereinigung. In den meisten Fällen ist eine orale Introjektion die Grundlage der Vereinigung. Wenn nur der eine Teil die Nahrung zu sich nimmt, so wird dieser Teil von dem anderen abhängig sein; wenn aber beide von derselben Substanz essen oder jeder das Blut des anderen trinkt, so ist das Band und die Verpflichtung gegenseitig. Die erstere Situation spielt besonders beim Liebeszauber eine hervorragende Rolle. Mädchen mischen ihr Menstru- ationsblut, ihren Schweiss, ihre Achselhaare in die Speisen des Mannes, der ihnen dann vollständig verfallen ist.5° In dem Landbezirk von Szatmar seihen die Mäd- chen Muttermilch durch den unteren Teil ihres Hemdes (die Stelle, die die Vagina berührt) und geben ihren Liebsten einen Kuchen zu essen, der mit dieser Milch bereitet ist.®® Der Liebestrank birgt Gefahren, denn ein Ehebund, der durch solche orale Introjektion zustandegekommen ist, kann leicht in Hass um- schlagen, und das Endergebnis kann Tod sein.°” Das Vorbild findet sich in der Mutter-Kind-Situation: die Reaktion auf Abwesenheit und Enttäuschung ist Aggression und Angst. Bei manchen Riten vom Bundes-Typus, d.h. bei solchen, die auf gegenseitiger Introjektion oder Mutter-Kind-Situation basieren, besteht
54) Freud: Über die weibliche Sexualität. Vgl. auch Freud: Die Weiblichkeit. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1933. S.169.
55) A. Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube. 1900. S.365t.
56) G. Röheim: Magyar Näphit &s Näpszokäsok. 1925. S.59.
57) Vgl. Guttman: Die Frau bei den Wadschagga. Globus, Bd. XCII (1907); L. Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 1909. Bd. I. S.115.
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der erste Teil des Rituals im Schlachten eines Tieres. Die Wadschagga pflegen eine Ziege zu töten; das Fell wird dem Tiere abgezogen, während es noch atmet, und beide Bundespartner spucken auf dieses Fell. So werden sie durch ihrer beider Speichel und durch das Blut des Tieres vereinigt.°® Das Tier, das vor der Ankunft eines geehrten Gastes auf der Schwelle geschlachtet wird,®° ist eine Darstellung der durch Trennung entstandenen Aggression, auf die ein Bund, ein